Ausstellung: "WER WIR SIND. FRAGEN AN DEN MIGRANTENSTAAT"

Ich wünschte fast, ich könnte Ihnen schreiben, dass Sie aufhören zu lesen und sofort nach Bonn fahren sollen - in der Bundeskunsthalle wartet eine Ausstellung auf Sie, die Sie unbedingt sehen müssen. Aber warum fast?

Die Ausstellung mit dem Titel "WER WIR SIND. FRAGEN AN DEN MIGRANTENSTAAT"  wurde Ende Mai dieses Jahres eröffnet und ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit mit dem DOMiD (Dokumentationszentrum und Museum für Migration in Deutschland) in Köln. Die im Titel formulierte thematische Fragestellung der Ausstellung bezieht sich auf die Zeit nach 1945 bis in die Gegenwart.  Insgesamt stellt die Ausstellung mehr Fragen, als sie zu beantworten vermag: Wie entsteht das "Wir" in der Gesellschaft? Ist es nur durch Abgrenzung vom "Anderen" möglich? Wie stehen die Chancen für ein gemeinsames und umfassendes "Wir"?

Im einleitenden Text des Kuratorenteams (bestehend aus Johanna Adam, Lynhan Balatbat-Helbock, Dan Thy Nguyen) heißt es: "Die Ausstellung stellt kritische Fragen zu Deutschland als (In-)Migrationsland. Ein Gedanke, gegen den sich die Politik lange gewehrt hat, der jetzt aber offensichtlich wird. Migration ist kein Sonderfall - sie ist ein Normalzustand, immer und überall auf der Welt. Menschen, die nach Deutschland gekommen sind, haben immer darum gekämpft, Teil der Gesellschaft und ihrer Geschichte zu werden. Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen gehören nach wie vor zum Alltag von Menschen, denen die Zugehörigkeit zum "Wir" abgesprochen wird, ob sie nun eine tatsächliche Migrationsgeschichte haben oder nicht. Ihre Wege sind von Widerständen, aber auch von Erfolgen geprägt".  

Die Ausstellung wirft einen Blick auf die Strukturen der deutschen Gesellschaft: Wer hat eine Stimme? Und wie stark ist diese Stimme? Wie schaffen wir Zugang zu Raum und Ressourcen, zu Bildung und Arbeit, zu Wohnen und Kultur? Wer hat Einfluss in Politik und Medien? Wie und worüber sprechen diese Medien? Wie sieht das alltägliche Leben in einem multikulturellen "Wir" aus? Die Ausstellung beleuchtet sowohl die Errungenschaften als auch die Hindernisse im Kampf um ein gleichberechtigtes Zusammenleben. Insgesamt 50 Künstlerinnen und Künstler widmen sich diesen Fragen und Thesen.

Die Ausstellung wird von einer Publikation und zahlreichen Veranstaltungen begleitet.  Bei allem Lob für diese Ausstellung kann ich leider nicht übersehen, dass sowohl in der Liste der teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler als auch in der Interviewreihe, die die Ausstellung begleitet, nur wenige Stimmen aus Mittel- und Osteuropa zu finden sind.  Die Führungen werden auf Deutsch, Englisch, Arabisch, Türkisch, Kurdisch, Persisch (Farsi), Französisch und (hier eine Ausnahme) Ukrainisch angeboten. Vergeblich sind Polnisch, Kroatisch, Albanisch aber auch... Italienisch. Das ist ein bisschen schade, vor allem wenn man bedenkt, dass der Anteil der Zuwanderer aus Polen an der Bonner Stadtbevölkerung 6,3 % beträgt (gleich nach den Bürgern aus Syrien (9 %) und der Türkei (7,7 %)). Bei aller Kritik bleibe ich aber dankbar für diese künstlerische Auseinandersetzung.

Wenn ich weiß, wie viel Arbeit in der Konzeption und Realisierung dieser Ausstellung stecken muss, bin ich froh, sie gesehen zu haben. Und - wie immer und bei jeder Begegnung mit Kunst - ist meine Einschätzung hier auch subjektiv bzw. soll Sie dazu bewegen, nach Bonn zu kommen und sich ein eigenes Urteil zu bilden. Die ideale Gelegenheit könnte der Kongress der Polnischen Organisationen in Deutschland Bonn 2023 (29.09.-01.10.2023) sein. Planen Sie diesen Besuch vorher oder nachher und lassen Sie es uns wissen. Eine Eintrittskarte (ganztägig) kostet 13 €. Die Bundeskunsthalle ist montags geschlossen.

In der Ausstellung, die bis zum 8. Oktober läuft, sehen Sie Werke von: Adel Abdessemed, Akinbode Akinbiyi, Michael Annoff, James Gregory Atkinson, May Ayim, Mehtap Baydu, Cana Bilir-Meier, Frédéric Brenner, Maithu Bùi, Vlassis Caniaris, Nuray Demir, Harun Farocki, Talya Feldman, Claire Fontaine, Karnik Gregorian, Hans Haacke, Manaf Halbouni, Mona Hatoum, Nadira Husain, Daniel Josefsohn, Sebastian Jung, Šejla Kamerić, Kanak Attak, Cem Kaya, William Kentridge, Magda Korsinsky, Alicja Kwade, Damian Le Bas, Thomas Locher, Juno Meinecke, Emeka Ogboh, Aras Ören, Daniela Ortiz, Benjamin Patterson, Mario Pfeifer, Phung-Tien Phan, Anta Helena Recke, Serkan Sarier, Lucia Sceranková, Lerato Shadi, Katharina Sieverding, Hito Steyerl, Ülkü Süngün, Dito Tembe, Sung Tieu, Rirkrit Tiravanija, Dragutin Trumbetas, Ulay, Carrie Mae Weems, Naneci Yurdagül.

Wer sich vor seinem Besuch noch weiter in das Thema vertiefen möchte, findet auf YouTube eine achtminütige Aufzeichnung im Ausstellungsraum

 

https://www.youtube.com/watch?v=PeEJeWuH9yE

© Kasia Lorenc