Polnisch-deutscher Fluss - Agata Lewandowski

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Ich habe die Flüsse immer als Frauen betrachtet. Sie sind ebenso schön und sanft, wie sie launisch und bedrohlich sind. Im Deutschen haben die meisten Flüsse das weibliche Geschlecht. Die männlichen Ausnahmen sind der würdevolle Rhein mit seinem Nebenfluss Neckar, der stolze Main und der lebensspendende Nil.

Mein Leben hat sich zwischen drei oder sogar vier Flüssen abgespielt.

Ich wurde buchstäblich an der Weichsel geboren, nämlich im Warschauer Stadtteil Powiśle. Als Kind habe ich immer in der Weichsel gebadet, und an der Weichsel hat mir mein erster Verlobter im Teenageralter einen Heiratsantrag gemacht. Als ich in meinen Zwanzigern war, zog ich nach Berlin, wo ich den großen Fluss immer noch vermisste. Jeder erklärte mir, dass die Deutschen als große Organisatoren gleich nach der Gründung der Stadt die Angewohnheit hatten, Flüsse mit Kanälen als den billigsten Transportwegen zu regeln. Lange Zeit vermisste ich die Strömung der widerspenstigen Weichsel in Berlin, bis ich Gefallen an den Kanälen von Spree und Havel fand, die mich in Charlottenburg umgaben, insbesondere an einem, über den sich eine für die masowische Landschaft typische Trauerweide lehnte. Bis heute weiß ich nicht, in welchen Berliner Kanälen die Spree und in welchen die Havel fließt. Ich bin überzeugt, dass sich ihr Wasser vermischt, so wie sich das Blut polnisch-deutscher Kinder, die in Berlin geboren werden, vermischt.

Als ich die Oderbrücke hundertmal mit dem Zug überquerte, war ich jedes Mal fasziniert, wie anders der Fluss aussah. Manchmal ragten nur die Wipfel der überfluteten Bäume heraus. Als ich das letzte Mal vor vier Wochen darüber fuhr, tat es mir leid. Sie war so schmal und ausgetrocknet, dass sie kränklich aussah.

Die Oder hat mich immer gleichzeitig in einem Land verabschiedet und in einem anderen willkommen geheißen. Das ist die Magie der Flüsse, die auch Grenzen von Ländern sind. Sie können Länder entweder vereinen oder trennen. In der Vergangenheit, als die deutsch-polnischen Beziehungen gut waren, herrschte der Eindruck, dass die Oder uns verbindet.

Die Indianer glauben, dass sowohl die Erde als auch der Himmel unteilbar sind. Ebenso sind gemeinsame bi-nationale Flüsse nur theoretisch durch eine Grenze geteilt, die mitten durch ihr Bett verläuft. Während das Wasser und die Fische frei und ohne Nationalität sind.

Am Fluss Bug an der nordöstlichen Grenze Polens zu Weißrussland werden Flüchtlinge aus Syrien immer noch schlechter behandelt als Tiere, während im Südosten Flüchtlinge aus der Ukraine mit offenen Armen und Herzen empfangen werden. Polen war schon immer ein Land der Widersprüche, aber noch nie ein solcher moralischer Widerspruch in der Art und Weise, wie die Regierung mit Menschen umgeht, die vor dem Krieg fliehen müssen. Zu der humanitären Katastrophe an der Ostgrenze gesellt sich nun eine Umweltkatastrophe an der Westgrenze Polens.

Niemand kann sagen, was die Ursache für die Vergiftung unserer deutsch-polnischen Königin der Flüsse ist. Wie viele Jahre werden wir brauchen, bis sie uns wieder dient und sich erholt? Wie viele Jahre werden wir brauchen, damit sie nicht von unbekannten Tätern vergiftet werden muss? Die Tätern, die bisher den Tod von Hunderten von Tonnen toter Fische verursacht haben, die aus der Oder gezogen wurden, sind keiner der beiden Regierungen bekannt. Wir sind machtlos gegenüber dem Krieg in der Ukraine, und wir sind ebenso machtlos gegenüber den fehlenden Antworten auf die Frage, wer was wann und wo in die Oder einleitete und wie er sie mehrere Jahre lang vergiftete.

Ich hoffe, dass sich bis Ende 2022 die Ohnmacht gegenüber den russischen Invasoren in einen Sieg für die Ukraine verwandelt, und dass sich die Ohnmacht Polens und Deutschlands gegenüber der tragischen Situation an der Oder in eine aktive Zusammenarbeit zur Rettung unseres liebsten deutsch-polnischen Flusses verwandelt.

Flüsse sind wie Adern, in denen das Leben von Städten und Staaten fließt. Ich wünsche uns allen, dass die Oder so schnell wie möglich wieder ein schöner, gesunder Fluss wird, der uns alle auf beiden Seiten mit Stolz vereint und nicht trennt.

Agata Lewandowski