Jungen bei Wałęsa zu Besuch

Łódź. Am Busbahnhof steht eine Gruppe junger Menschen, weinend. Die deutschen Schüler besetzen mit schwerem Herz ihre Plätze im Bus. Wenn ihre Betreuer einsteigen wollen, rennen plötzlich die polnischen Schüler auf sie zu, umarmen sie und beginnen übereinander zu reden: „Danke schön! Manchmal haben wir keine Lust mehr, aber Sie haben uns wirklich die Motivation gegeben, weiter zu lernen. Wir möchten eines Tages so sein wie Sie.“ Diese Worte sind an Sophie Delest gerichtet, die neben ihrer künstlerischen und journalistischen Tätigkeit seit 2018 mit ihrem Mann, Dr. Andreas Moser, polnisch-deutsche Jugendbegegnungen organisiert. Überrascht tritt sie zwei Schritte zurück und umarmt die jungen Leute, die zu ihr drängen. Deutsche Schüler bleiben nicht untätig. Sie lehnen sich aus ihren Sitzen und rufen: „Das war wirklich ein fantastischer Austausch! Danke schön." Jemand fügt hinzu: „Können wir im Sommer noch einmal mit Ihnen nach Łódź fahren?“ Ein paar Mädels aus der polnischen Gruppe setzen ihre Rede fort: „Wir haben so viel gelernt. Danke schön!“

„Wann danken schon junge Menschen dafür, dass sie etwas lernen konnten?“, lacht Sophie. Die Emotionen überwältigen schließlich auch die männlichen Lehrkräfte. Es ist ein Abschiedsbild des diesjährigen Austauschs zwischen dem Immanuel-Kant-Gymnasium in Lachendorf (Niedersachsen) und dem Adam Asnyk Lyzeum in Łódź (Polen). In seinem Zentrum stand die Frage nach den Umbruchbewegungen in der DDR und in Polen 1989.  Der Projektleiter Andreas Moser und seine Frau Sophie Delest gingen vom ersten Austausch, den sie auf die Beine stellten, davon aus, dass solche Jugendbegegnungen Lernen durch das sogenannte „Anfassen der Geschichte“ sein sollten.

Im Februar waren die polnischen Schüler und Schülerinnen zu Gast bei ihren deutschen Freunden, um in Leipzig die Routen der Montagsdemonstrationen abzuwandern, die Arbeitsmethoden des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) besser kennen zu lernen, die Reste des ehemaligen Eisernen Vorhangs persönlich anzufassen und die rekonstruierte Kontrollstelle beim Übergang der deutsch-deutschen Grenze zu erleben. Zum Programm gehörten auch Workshops im Heinrich-Hoffmann-von-Fallersleben-Museum. In ihrem Rahmen mussten die Projektteilnehmer u.a. ein Westpaket vorbereiten oder genauer die Rolle der Frauen in der Gesellschaft in der früheren BRD und DDR analysieren.

Ein wichtiger Punkt dieser Austausche sind Zeitzeugengespräche. Den Organisatoren liegt dabei daran, den jungen Leuten ein möglichst breites Spektrum von Meinungen zu präsentieren. Deswegen haben sie sowohl in Deutschland wie auch in Polen Menschen gewinnen können, welche die besprochenen Ereignisse unterschiedlich bewerten. In Deutschland waren es Personen, die sich negativ über die Zeit des Sozialismus geäußert haben. Diese Aussagen wurden mit der Geschichte des Schriftstellers Ronald M. Schernikau konfrontiert, der kurz vor dem Untergang der DDR einen Antrag auf Staatsbürgerschaft dieses Landes eingereicht hatte.

Das in Polen fortgesetzte Projekt konzentrierte sich auf die Solidarność-Bewegung und ihr politisches, ökonomisches, gesellschaftliches und kulturelles Erbe. Ein besonderes Highlight dieses Projektteils war ein Treffen der jungen Leute mit dem Mitbegründer und zentralen Akteur dieser Gewerkschaft, den späteren Staatspräsidenten Polens und Friedensnobelpreisträger Lech Wałęsa.

Während dieses anderthalbstündigen Gespräches erläuterte Wałęsa die für ihn drei zentralen Fragestellungen, wie alle Staaten gesellschaftspolitisch und wirtschaftlich miteinander verbunden werden könnten, in welchem wirtschaftlichen System die Gesellschaft leben wolle und wie man nachhaltig gegen Korruption und Populismus auf gesellschaftspolitischer Ebene vorgehen könne. Diese Fragen zu beantworten sei die große Aufgabe der Jugend, die sich neue Lösungen einfallen lassen müsse, wolle sie die Zukunft sinnvoll gestalten. Eine große Chance sehe er in der technologischen Entwicklung, die man sinnvoll nutzen könne, um Prozesse zu vereinfachen und sich den zentralen Problemen der Menschheit zu widmen. Dabei unterschied er deutlich zwischen seiner Generation, die bestimmte Dinge zerstören musste, und der neuen Generation, welche solche aufbauen müsse. Wałęsa betonte, dass er somit den „Staffelstab an die neue Generation übergeben“ und sie dazu motivieren wolle, sich gesellschaftspolitisch zu engagieren. Sowohl die polnischen als auch die deutschen Jugendlichen zeigten sich sehr beeindruckt von Wałęsas Engagement. Einige bezeichneten ihn als einen Visionär, die anderen beurteilten ihn etwas zurückhaltender: Er habe schöne, aber utopische Ideen. Ein Teil der Gruppe fühlte sich von der enormen Herausforderung, die ihrer Generation bevorsteht, überwältigt, jedoch waren sich alle einig, dass die Umsetzung zumindest einiger der ihnen vom Herrn Präsidenten Wałęsa gegebenen Richtlinien ein Versprechen auf eine bessere, gerechtere Welt zu sein scheint. Lech Wałęsa betonte im Gespräch auch, wie wichtig es sei, sich mit Vertretern verschiedener Parteien auseinanderzusetzen.

Diesem Grundsatz folgend sorgten die Projektorganisatoren auch dafür, dass die Jugendlichen einen Aktivisten der Organisation „Solidarność walcząca” (Kämpfende Solidarność) trafen, der bei den Gesprächen am Runden Tisch radikalere Entscheidungen erwartete und die dortigen Vereinbarungen aus diesem Grund bis heute kritisch beurteilt.

„Wir wollen, dass junge Menschen verstehen, aus welchen Gründen es zu gesellschaftlichen Spaltungen kommt“, erklärt Andreas Moser. „Verstehen ist der erste Schritt, um alte Fehler auszuschalten und neue Lösungen zu finden“, fügt Sophie Delest hinzu.

Nach solch ehrgeizigen Programmpunkten konnten die jungen Menschen im „Museum des Lebens im Sozialismus“ in Warschau und während der vom „Institut für Nationales Gedenken“ in Łódź organisierten Workshops ein bisschen spielerisch  in die Realität des sozialistischen Polens eintauchen.

Das Endprodukt des gesamten Projekts sind Lernmaterialien, die von den Projektteilnehmern entwickelt wurden. Der dahinterstehende Gedanke besteht darin, Jugendliche im Alter der Projektteilnehmer zum Lernen zu animieren. „Wir haben viele Bücher, in denen historische Ereignisse beschrieben werden, aber in der heutigen Zeit der schnellen Kommunikation, in der wir von allen Seiten mit Nachrichten bombardiert werden, brauchen wir eine Formel, die Aufmerksamkeit erregt und die Interessen der Schüler weckt.“

Andreas Moser und Sophie Delest sind sich einig: „Schließlich haben wir im heutigen Europa nicht ohne Grund eine Spaltung entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Deshalb organisieren wir Austausche dieser Art, damit die junge Generation die Ursachen der gegenwärtigen Konflikte besser versteht und nach einem Ausweg sucht“, fasst Andreas Moser zusammen.

Die Umsetzung des Projekts war dank der großzügigen finanziellen Unterstützung des Deutsch-Polnischen Jugendwerks und der Sanddorf-Stiftung möglich.

Autor: Aleksandra Płocińska