Ein Vilnianer in Bayern - Dr. Barbara Juno-Kaliszewska

(Foto - Die Redaktion der Vilniuser Tageszeitung "Słowo". Von rechts: Bolesław Wit-Święcicki, Witold Tatrzański, Józef Mackiewicz, Kazimierz Luboński, Wacław Żyliński - Nationales Digitales Archiv, Ref. 1-K-1122)

Ein polnischer Solschenizyn, ein bedeutender Schriftsteller, ein Zeuge eines kurzen Jahrhunderts – das sind nur einige der Spitznamen des Schriftstellers Józef Mackiewicz, dessen Geburtstag – auf Beschluss des polnischen Sejms im Jahr 2022 gefeiert wurde. Der wegen seiner Ansichten verfluchte „Held wider Willen” lebte und schrieb seit seiner Flucht aus Vilnius im Jahr 1944 im Exil. Die meisten dieser Jahre verbrachte er in München. Seine wichtigsten Werke wurden dort geschrieben.

1975 wurde Józef Mackiewicz von der Abteilung für Slawistik der Universität Kansas (USA) als Kandidat für den Literaturnobelpreis nominiert. Einige Jahre zuvor hatte der russische Prosaschriftsteller Aleksandr Solschenizyn sie erhalten. Bis heute ist die Meinung zu hören, dass der Preis an einen Schriftsteller hätte gehen können, der vom kommunistischen und sowjetischen Establishment aus dem nationalen Gedächtnis getilgt wurde, wenn das Buch „Der Weg nach Nirgendwo“ ins Englische oder zumindest ins Russische übersetzt worden wäre.

„Der Weg nach Nirgendwo“ wurde, wie die meisten seiner Hauptwerke, in München geschrieben. Das Buch ist eine eingehende Analyse des Kommunismus. Der Hintergrund des Geschehens ist das Land Vilnius und seine Bewohner während der ersten sowjetischen Besatzungszeit 1939-1941, in der sich der Schriftsteller aus dem öffentlichen Leben zurückzog und die Realität um sich he- rum beobachtete. „Abgesehen von den neuen Personen ist in diesem Bericht alles authentisch. Menschen, Tiere und Dinge; Ereignisse, geheime Dokumente und Daten; die Namen von Dörfern; Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zur Moskauer Zeit, die Linie, die durch die Rajstas verlief, die die litauischen und weißrussischen Sowjetrepubliken teilten, und die Richtung jeder Straße.“ – schrieb Mackiewicz, stets durch und durch authentisch. In dem Buch stellte er schwierige Fragen zur Neutralität gegenüber den Sowjets und bewies immer wieder, dass Neutralität ins Nichts führt....

Halbwegs

Der herausragendste Vertreter der polnischen Geschichtsprosa des 20. Jahrhunderts wurde 1902 in St. Petersburg geboren, wo seine Eltern zu dieser Zeit lebten. Als Józef 5 Jahre alt war, kehrte die Familie nach Vilnius zurück. Das gesamte junge Leben des Schriftstellers ist mit der Stadt Gediminas verbunden. Als Vorreiter unpopulärer Diskurse definierte er sich als Anhänger der nationalen Idee, als Bürger des Großfürstentums Litauen.

München wurde zum letzten Zufluchtsort des verfluchten Schriftstellers, der beschloss, seine geliebte Heimat auf der Flucht vor der sowjetischen „Befreiung“ zu verlassen. Er verließ Czarny Bor bei Vilnius mit seiner großen Liebe Barbara Toporska im Mai 1944, als klar wurde, dass sich die Rote Armee der Stadt näherte. Noch im selben Jahr verließ Mackiewicz, der sich den Plänen zur Auslösung des Warschauer Aufstands (sowie der Operation „Ostra Brama“) widersetzte, Warschau in Richtung Krakau. Von dort aus geht es in den Westen. Nach mehr als einem Jahrzehnt des Herumirrens in Mailand, Rom oder London und nach mehreren vergeblichen Versuchen, sich in westlichen Redaktionen zu verankern, landete er schließlich in München.

1947 ging die Familie Mackiewicz nach London und zog 1955 endgültig in die bayerische Hauptstadt, wo Mackiewiczs Frau in der Redaktion des lokalen Radiosenders Voice of America from Europe arbeitete. Leider wurde die Radktion drei Jahre später geschlossen, und die wirklichen Probleme begannen 1963, als Barbara – die Hauptverdienerin der Familie – an Krebs erkrankte.

Im Exil – die äußere und innere Landschaft

Zunächst aber war da Italien. Bereits hier versuchte Mackiewicz 1945, seine Erlebnisse in Vilnius während des mengestellte Materialsammlung mit dem Titel „Das Massaker von Katyn in der Sowjetunion“ entzogen wurde. „Das Massaker von Katyn im Lichte der Dokumente”, erschien 1948 nicht nur mit einem Vorwort, sondern auch unter dem Namen von General Władysław Anders.

Im Jahr 1989. schrieb Czesław Miłosz in den Seiten der Pariser Kultur: „An der Kampagne gegen Mackiewicz nahm eine seltsame Truppe teil, denn sie waren sowohl Patrioten als auch versteckte Agenten der Täter des Massakers von Katyn. Es lag im Interesse der letzteren, den Zeugen als Faschisten und Kollaborateur zu bezeichnen. (...) Mackiewicz bezahlte seine Reise nach Katyn im Jahr 1943 auf Einladung der deutschen Behörden. (...) Aber schließlich existiert „Der Weg nach Nirgendwo“  und wird sich verteidigen”.

Die Understatements des Jahrhunderts

In diesen Jahren weigerten sich die Verleger häufig, Texte von Józef Mackiewicz zu veröffentlichen. In einem Brief aus dem Jahr 1971 schrieb der Intellektuelle über seine Stellung in der literarischen Welt des Nachkriegsdeutschlands, dass sie gleich Null sei: „Seit vielen Jahren wollte kein deutscher Verlag mehr meine Bücher veröffentlichen. Das interessiert sie nicht”.

Und doch hat er nicht aufgehört zu schaffen. Laut seinem Biografen Włodzimierz Bolecki veröffentlichte Mackiewicz Dutzende (oder sogar Hunderte) von Memoiren, Kurzgeschichten und anderen Artikeln im Westen. Viele von ihnen wurden in der Pariser „Kultura” veröffentlicht, eine große Anzahl in fremdsprachigen Periodika. Allein bis 1960 erhielt er über 900 Rezensionen zu seinen Werken. Mackiewicz hat Emotionen hervorgebracht, aber da- ran nichts verdient. Die Familie Mackiewicz lebte mehr als bescheiden. Czesław Miłosz nannte es „extreme Armut”, und Andrzej Mietkowski nannte es „die Untertreibung des Jahrhunderts”. Ihre winzige Wohnung in der Windeckstraße 21 bestand aus zwei kleinen Zimmern, von denen eines als Küche genutzt wurde. Im Keller lagerten sie Dokumente und Manuskripte. Der größte Teil der Sammlung, „eingeschlossen in drei Metallkisten und einer Holzkiste, zusammen mit dem Stuhl und dem Schreibtisch des Schriftstellers, einem Pfeifenaschenbecher, einer Porzel- lanschale mit Bleistiften, Gläsern und einer Schreibschine”. – wie in den Unterlagen der Institution zu lesen ist – wird 1985 dem Archiv des Polnischen Museums in Rapperswil (Schweiz) geschenkt werden.

Obwohl das angesehene Intellektuellenpaar in einer Stadt lebte, in der die polnische Sektion von Radio Free Europe – damals der wichtigste Geldgeber der polnischen Emigration – aktiv war, verdienten Józef und Barbara ihr Brot mit Strumpfstricken und dem „Sammeln von Schandflecken“. Der persönliche Konflikt zwischen dem kompromisslosen Vilniuser und dem Direktor des Radiosenders, Jan Nowak-Jeziorański, versperrte ihm und Barbara den Weg zur Zusammenarbeit mit der Radioredaktion und blockierte wahrscheinlich auch die Veröffentlichung von Mackiewiczs Büchern in den USA. „Wir haben keine Zeit zu warten. Wir schweigen über nichts. Wir sind zu Hause und müssen arbeiten und haben das Recht, uns zu äußern”. – behauptete Mackiewicz.
 
Er verstarb am 31. Januar 1985 in München an den Folgen eines Schlaganfalls. Am 5. Februar fand in London ein bescheidenes, stilles Begräbnis statt, und seine sterblichen Überreste wurden auf dem Friedhof der St. Andrew Bobola Church in London beigesetzt. Nach jahrelangem Kampf gegen den Krebs starb Barbara nur wenige Monate später in der Klinik Bad Trissl, südlich von München.
 
Eine wohlverdiente Erinnerung nach der größten Untertreibung des Jahrhunderts Jozef Mackiewicz, der Zeuge eines kurzen Jahrhunderts war, erlebte das Tauwetter unter Gorbatschow und den Zusammenbruch der UdSSR nicht mehr. Er kehrte auch nie nach Polen zurück oder sah sein geliebtes Vilnius. Bis an sein Lebensende blieb er seinem Vilnius-Blickwinkel treu, obwohl er die Stadt an der Neris dreißig Jahre lang nur aus bayerischen Fenstern und nur mit den Augen sei- ner Phantasie betrachtete.

Siebenunddreißig Jahre nach seinem Tod, am 16. Oktober 2022, wurde am Gebäude des Generalkonsulats in München eine Gedenktafel zu Ehren des großen Schriftstellers enthüllt. Als zweifellos moderner Romancier war er seiner Zeit um Jahrzehnte voraus. Er beschrieb sowohl die Verbrechen des Kommunismus (Katyn) als auch die Völkermorde des Nationalsozialismus (Ponary) und verurteilte darüber hinaus öffentlich die Luftangriffe und die Bombardierung von Dresden. Sein ständiger Vergleich der beiden Totalitarismen – ein Charakterzug, für den er nicht nur in der pol- nischen Erinnerung bis an sein Lebensende über Bord ging.

Die Gleichsetzung der beiden Totalitarismen im europäischen Geschichtsbewusstsein hat erst im 21. Jahrhundert stattgefunden. Dank der Bemühungen der Behörden u. a. des inzwischen unabhängigen Litauens und Polens wird der 23. August 2008 durch einen Beschluss des Europäischen Parlaments zum Tag des Gedenkens an die Opfer totalitärer Regime erklärt. Es fällt daher schwer, Witold Gombrowicz nicht zuzustimmen, der bereits Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre in seinen Memoiren schrieb: „Mackiewicz ist natürlich von Haus aus und bis ins Mark ein polnischer Grenzlandkünstler... aber das schmälert natürlich in keiner Weise seine allgemeine Menschlichkeit... denn Kunst ist (wie man seit langem weiß) die Erhebung des Privaten, Individuellen, Lokalen, ja Parochialen in die Höhe des Ganzen... in die kosmische Dimension...”.

Dr. Barbara Judo-Kaliszewska 

Dr. Barbara Jundo-Kaliszewska - Assistenzprofessorin am Lehrstuhl für politische Theorie und politisches Denken, Fakultät für internationale und politische Studien, Universität Łódź, Redakteurin des Portals "Obserwator Międzynarodowy", Autorin des Buches "Geiseln der Geschichte.Polnische Minderheit im postsowjetischen Litauen" (Łódź, 2019), Autorin und Moderatorin der Sendung "Rozmowy w Mackiewiczówce" (TVP Vilnius).

Dr. Barbara Jundo-Kaliszewska führt Besucher durch die Mackiewiczowka in Cherný Bor bei Vilnius.