Damals haben wir die Fremden (nicht) gemocht

Wie entstehen und zerfallen multikulturelle Gesellschaften? Warum ist dort, wo in der Vergangenheit Vertreter verschiedener Kulturen nebeneinander lebten, heutzutage so etwas so schwer zu wiederholen? Warum  sind große Gesellschaftsgruppen gerade dort offener, Migranten aufzunehmen, wo früher gewisse Minderheiten zu Opfern von Verfolgung wurden? Und zum Schluss: wo verläuft die Akzeptanzgrenze für die Anderen?

Im Rahmen eines deutsch-polnischen Austausches zwischen dem VIII Lyzeum Adam Asnyk in Lodz und dem Immanuel-Kant-Gymnasium in Lachendorf haben die Jugendlichen während ihres Treffens im Dezember 2018 in Deutschland, wie auch Anfang Juli 2019 in Polen zuerst die Aufgabe bekommen, Ähnlichkeiten zwischen Regionen ihrer Herkunft zu finden und dann aufgrund der erhaltenen Ergebnisse die oben gestellten Fragen zu analysieren. Der Text unten ist ein Bericht von dem Projektteil, der in Polen durchgeführt wurde.

Eine gewisse Einleitung, den Prozess zu verstehen, wie multikulturelle Gesellschaften entstehen und zerfallen, war eine Stadtführung in Lodz, in der Vergangenheit eine Stadt der vier Kulturen. In ihrem Rahmen besuchten wir die einzige Synagoge in der Stadt, die trotz des Zweiten Weltkriegs erhalten geblieben ist. Dies war dank eines Tricks möglich. Verkauft aufgrund gefälschter Dokumente an einen Deutschen diente sie während des zweiten Weltkrieges als Salzlager. Anschließend besichtigten wir die orthodoxe Kirche, wo uns die Unterschiede zwischen der orthodoxen und katholischen Kirche gezeigt wurden. Z.B wird in der orthodoxen Religion die Taufe mit der Konfirmation verbunden.  Zum Schluss haben wir den größten jüdischen Friedhof in Europa besucht. Nicht nur dieser Ort raubt den Atem durch seine Größe. In Lodz gab es auch das größte Ghetto auf den besetzten polnischen Territorien. Ein Teil des Friedhofs erzählt die Geschichte der letzten Juden in der Stadt.

Die ins Zentrum des Projekts gestellte Problematik wurde aus verschiedensten Perspektiven näher gebracht. Schon in Hannover haben wir erfahren, dass das, was diese Stadt mit Lodz verbindet, die Geschichte ihrer Galerien der Modernen Kunst ist. In Hannover wurde die erste Galerie dieser Art in ganz Europa gegründet. Lodz folgte ihr. Am Beispiel der Galeriegründer in Lodz konnten wir genauer sehen, wie in einer multikulturellen Stadt die kleinsten gesellschaftlichen Zellen, die Familien zerfallen sind. Eine Geschichte von einer Liebe, die in der Konsequenz der geschichtlichen Ereignisse zum gegenseitigen Hass geworden ist, wurde mit Kunst gewürzt. Ein jüdischer Aspekt in dieser Erzählung lässt sich übrigens auch finden. Das Museumsgebäude wurde von Izrael Poznański, einem Fabrikanten  jüdischer Herkunft, als Geschenk für seinen Sohn gebaut. Die Regierung beschlagnahmte es nach dem Krieg, um es dem Museum für ihre Ausstellungen zur Verfügung zu stellen. Wladyslaw Strzeminski schaffte in ihm den neoplastischen Raum. Dieser wurde jedoch von der polnischen, kommunistischen Regierung vollständig abgedeckt, da er nicht den aktuellen ideologischen Vorstellungen entsprach. Erst seit den 60er Jahren ist es möglich, ihn wieder zu sehen. Der neoplastische Raum sticht vor allem durch die Primärfarben und geometrische Anordnungen hervor, die sich durch die gesamte Dauerausstellung ziehen.

Der Neoplastizismus und das Schicksal von Strzeminski im Nachkriegspolen nahmen großen Einfluss auf nachfolgende Künstler und inspirierte viele Konzepts. Ein Beispiel dafür wäre Monika Sosnowskas „Ursus“ aus dem Jahr 2012.

Ein Besuch in Warschau war das nächste Kapitel in der Erzählung von dem Zerfall einer Welt, die einmal multikulturell war. Durch Gruppenarbeiten haben wir die Geschichte erfahren, indem wir uns näher mit den Gedanken der Menschen befassten, die damals in Warschau den Zweiten Weltkrieg miterlebten. Wir haben Briefe bekommen, die uns dabei sehr geholfen haben, sich in ihre Lebenssituation zu versetzen. Erstaunend war z.B. zu erfahren, dass das beste Geschenk, das man damals als Jude im Ghetto erhalten konnte, ein Loch in der Mauer gewesen sei, um Kontakt zu anderen Personen aufnehmen zu können und Waren zu schmuggeln. Wir haben auch etwas über die Versuche der Rettungsaktionen für Juden erfahren. Allerdings haben wir auch Texte analysiert, die uns die Unterschiede in der Wahrnehmung verschiedener Nationen im kollektiven Gedächtnis unterschiedlicher Völker bewusst machen sollten, wie auch etwas über die Gründe dieser Unterschiede sagten. Weiter stand im Programm die Besichtigung des „POLIN“-Museums. Es erzählt die Geschichte der Juden in Anknüpfung an die Geschichte Polens. Durch diese abwechslungsreichen

Darstellungen hat man sich wie ein Zeitreisender gefühlt.

Heutzutage steht auf dem Krasinski-Platz in der Nähe der ehemaligen Ghettomauer

das imposante Denkmal des Warschauer Aufstands. Es stellt sehr realistisch die Soldaten in Bewegung dar und erinnert an das letzte Kapitel des Kriegsschicksals der polnischen Hauptstadt. Es bedeutete das Ende für eine Welt, die sich nicht mehr wie Gebäude wiederaufbauen ließ.

Es ändert jedoch die Tatsache nicht, dass die Gebäude der Stadt umso eindrucksvoller wirken, wenn man sich vorstellt, wie Warschau nach dem Zweiten Weltkrieg eigentlich dem Erdboden gleichgemacht wurde.

Warschau war ein wichtiger Projektpunkt, weil die Stadt zeigt, wie die Polen sich mit ihrer Kultur und dem Land identifizieren.

Nach den „Warschauer Erfahrungen” besichtigten wir das Textilmuseum in Lodz, welches auch „Weiße Fabrik” genannt wird. An diesem Tag erfuhren wir Geschichten der Deutschen in der Stadt und wie sich einige von ihnen mit Polen identifizierten, wofür sie während der beiden Weltkriege sogar mit ihrem Leben bezahlten. Wir lernten auch besser die Person Karl Wilhelm Scheibler kennen. Obwohl er aus Deutschland kam, war er ein sehr sozial engagierter Mensch, wodurch er die verschiedenen Kulturen in Lodz zusammenführte. Besonders interessant war es, die Sozialwohnungen Scheiblers zu sehen.

In der ehemaligen Fabrik von Ludwik Geyer konnten wir dann sehen, wie die alten Maschinen funktionierten.  Zudem wurde uns über die grausamen und unmenschlichen Arbeitsbedingungen berichtet, wodurch es täglich zu Todesfällen kam. Wir nahmen außerdem an einem Vortrag über die Entwicklung multikultureller Mode im 19.Jh. teil. Die Informationen über gewisse Teilungen in der Modewelt damals waren ein Ausgangspunkt für eine Diskussion über die Toleranz für Bekleidung bestimmter Gruppen heutzutage.

Zum Schluss wurde sich der Film „Das gelobte Land” angeschaut. Für die deutschen Schüler hatte der Film eine bedrückende, deprimierende und expressive Wirkung, aber er wurde auch als realistisch und ehrlich empfunden. Für die polnischen Schüler und auch andere Polen ist der Film deshalb wichtig, weil er von dem international renommierten polnischen Regisseur Andrzej Wajda, der in Lodz an der Filmakademie studiert hat, gedreht worden ist. Außerdem fanden sie ihn rührend und interessant, da sie durch ihn eine realistische Erfahrung der damaligen Kultur in Lodz machen konnten.

Aufgrund der im Rahmen des Projekts kennenlernten Geschichten sind wir zum Fazit gekommen, dass diese uns helfen können, andere Kulturen zu akzeptieren und sie in ihren individuellen Merkmalen/ Gewohnheiten zu tolerieren. Dies ist eine Lehre für Deutsche in heutigen Zeiten, aber auch eine Erinnerung für die Polen daran, dass sie in der Vergangenheit eine multikulturelle  und multikonfessionelle Gesellschaft waren. In Lodz wurden die Gotteshäuser von Anhängern anderer Religionen erbaut, woraus sich ein hohes Maß an Toleranz ergeben hat. Heutzutage sollten sich die Weltreligionen ein Beispiel an dem damaligen Umgang der Menschen untereinander nehmen, anstatt nur in ihren eigenen Gemeinden zu leben, völlig ohne Rücksicht und Verständnis für andere Religionen. Vor allem jedoch müssen wir den Frieden schätzen, denn der Besuch in Warschau zeigte uns eindrücklich, dass der Krieg nicht nur viele Kulturen der Stadt zerstört hat und somit auch die Multikulturalität, sondern außer der äußeren Folgen wie die Ruinen, auch noch Wunden in den Köpfen der Menschen hinterließ. Die multikulturellen Gesellschaften werden durch Vorurteile und Konflikte zerstört, die auf der politischen Ebene entstehen. Die Lehre, diese Gesellschaften wiederaufzubauen ist eine schwere Arbeit für viele kommende Generationen.

Von Projektleitern.

Als Anknüpfung an die Vorlesung über die Mode bekamen die Jugendlichen die Aufgabe, ein Design für eine Baumwolltasche zu entwickeln, mit dem sie ihre Identität ausdrücken sollten. Die Ergebnisse waren bunt, historisch und international. Wir hoffen, mit solchen Projekten wie dieses, die Vertreter der jungen Generationen im Respekt zu der Geschichte und Traditionen des eigenen Landes und in der Offenheit gegenüber anderen Kulturen zu erziehen. Viele Kriege waren die Konsequenz des Hasses anderen Kulturkreisen gegenüber und führten zu der Vernichtung ganzer gesellschaftlicher Strukturen. Vor allem in der heutigen Welt sehen wir es als unsere Pflicht, neue Generationen in einem besseren gegenseitigen internationalen Verständnis zu unterrichten.

Projektleiter: Iwona Witkowska, Joanna Miksa, Andreas i Katarzyna Moser.

Das Projekt wurde dank der Unterstützung des DPJW und der Sanddorf-Stiftung durchgeführt.

               

Text: Schüler des Immanuel-Kant-Gymnasiums aus Lachendorf

Übersetzung: Schüler aus dem VIII LO Adam Asnyk aus Lodz

Redaktion: Katarzyna Moser